· 

Zwischen den Grenzen

Was ist eine Grenze? Allgemein gesprochen ist sie eine Linie, die etwas trennt. Es gibt persönliche Grenzen, politische, administrative, kulturelle Grenzen. Grenzen, die Eigentum markieren, Grenzwerte, die nicht überschritten werden dürfen. Letztendlich sind Grenzen dazu da, Kategorien zu bilden, die Welt und das Leben einzuteilen. Sie sind sowohl notwendig als auch absurd. Jeder würde mir zustimmen, dass es wichtig ist, seine wie auch die persönlichen Grenzen anderer zu wahren und zu respektieren. Doch sitzt man Kaffee schlürfend in einem bequemen Stuhl mitten auf dem Schützengraben des Thaimilitärs, während man auf die andere Seite der Grenze über Myanmars mit Landminen durchzogene Landschaft blickt, erreicht die Absurdität doch einen gewissen Grenzwert der Geschmacklosigkeit. Tagtäglich setzen sich Menschen über die nicht immer konsequent gezogene Linie hinweg. Die Gesetze, besonders der Grenzstädte, sind andere und die Menschen in der Region wachsen damit auf, sich Wege an den Grenzposten vorbei zu suchen.  Das geschriebene weicht dem ungeschriebenen Gesetz, in dem der Austausch von Geld oder Gefälligkeiten zur augenblicklichen Blindheit der Beamten führt und die Grenze überschritten werden kann. Zumindest manchmal, überwiegend wird von der Gewalt berichtet, mit der thailändische Grenzbeamten gegen schutzsuchende Menschen vorgeht.
Der folgende Text ist ein Bericht über einen der vielen kaum beachteten Orte entlang der Thai-Myanmar Grenze. Im Zuge meiner Masterarbeit besuchte ich im März 2022 das Koung Jor Camp, eines von sechs  inoffiziellen Geflüchtetencamps entlang dieser Grenze. Die Bewohner*innen sind hier zwar sicher vor der militärischen Gewalt die in ihrem Herkunftsland vorherrscht aber ethnischer Diskriminierung sind sie nach wie vor ausgesetzt. 

 


„I´m German“, antworte ich auf die Frage, woher ich komme. „Oh Germany, very good country! Supporting Ukraine and takes care about refugees.“ Kommentiert der Campvorsteher, zufrieden mit meiner Antwort. Der bereits weißhaarige, verschmitzt aussehende Mann dreht sich zu meinen Mitreisenden und zuckt mit dem Kopf erwartungsvoll nach oben. „I´m from France.“ „Also very good!“ Er nickt anerkennend. „And you, where are you from?“ „I`m from China.“ Betretenes Schweigen. Er blickt nervös von rechts nach links auf der Suche nach einer entsprechenden Reaktion. „China … not so good but not the worst.“ Meine Begleiterinnen und ich wechseln belustigte Blicke. Er fängt sich wieder, als die ersten 40 Kilo schweren Reissäcke auf die Plane in der Mitte des Versammlungsplatzes abgeworfen und fein säuberlich aufgereiht werden. Er verschwindet erleichtert im Gewusel und ruft verschiedenen Leuten etwas zu, die sofort reagieren. Das Prozedere des Verteilens der Essensspenden beginnt. Für uns ist es das erste Mal, dass wir bei einer Essensspende in einem Geflüchtetencamp dabei sind. Wir wissen nicht so recht, wo wir anpacken sollen. Die Bewohner*innen sind routiniert und jeder weiß, wann was zu tun ist, so dass wir verwirrt zwischen dem Treiben stehen. Als die Reissäcke aufgereiht sind, wird jedem Reissack ein Mensch zugeordnet und dahinter platziert. In der prallen Sonne stehen sie da, wartend auf die nächsten Anweisungen des Vorstehers. Es wird laut in die Runde gefragt, wer Damenbinden braucht, Hände heben sich und rotrosa Plastikpäckchen werden an diese verteilt. Wie lange stehen sie jetzt schon in der brütenden Hitze? Dann werden Fotos gemacht, die sie von diesem Ablauf befreit. Die nächste Gruppe ist dran. Ein neuer Zyklus beginnt. Selbes Prozedere. Ich drehe mich zu Ying und frage, wofür die Fotos sind. „Das ist eine Auflage von den Geldgeber*innen. Das müssen wir so machen." Während ich mein unwohles Gefühl besser einzuordnen versuche und mich frage, ob es wirklich so schwer ist, eine humanere Art der Dokumentation von Essensspenden umzusetzen, verändert sich die Stimmung auf einmal schlagartig. Das letzte erlösende Foto ist gemacht. In der Schlange zum Rest der Spenden wird nun gelacht, geredet und weiter vorne werden die Reissäcke auf die Motorroller geladen, die bei der Anfahrt gefährlich schwanken. Nach und nach leert sich der Platz und es wird ruhiger. Nur der Bienenschwarm im Baum am Rande des Platzes summt weiterhin unberührt von den Geschehnissen zufrieden vor sich hin. 

Am Tag zuvor brechen die Aktivistinnen vom Shan Women´s Action Network (SWAN) zusammen mit zwei Freiwilligen und mir, verteilt auf zwei Transporter, auf kurvigen Straßen am späten Nachmittag auf. Die Ladeflächen sind vollgeladen mit Säcken von Zwiebeln, Knoblauch, Öl, Linsen, Bohnen, Reis und Masken. Alles von Notfallfonds finanziert. Unser Ziel ist das Kung Jor Camp in Wiang Heng, welches direkt an der thailändischen Grenze zu Myanmar liegt und von Menschen bewohnt wird, die sich der ethnischen Gruppe der Shan zugehörig fühlen.
Ihr Herkunftsland ist der Shanstaat, der in der Hochebene der Shanberge liegt. Er ist einer der weitläufigsten Staaten und könnte auch einer der wirtschaftlich profitabelsten in Myanmar sein, wäre die Situation nicht von einer höchst komplexen militarisierten Gemengelage geprägt, welche die Zivilbevölkerung in immer wiederkehrenden Flüchtlingswellen an der thailändischen Grenze stranden lässt. Seitdem steckt die Zukunft vieler zwischen der Grenze von Myanmar zu Thailand fest. Das Leben kreist sich in engen Zügen um den Aufenthaltsstatus, von dem alles weitere abhängt.

Besonders seit dem letzten Militärputsch im Februar 2021 ist die Idee, nur temporär in Thailand Zuflucht zu suchen, bis sich die Situation in Myanmar stabilisiert hat, in weite Ferne gerückt. Für die meisten aus dem Camp ist eine Rückkehr ohnehin nicht mehr in Betracht zu ziehen. Mit jedem Jahr, das verstreicht, wird eine Heimkehr unwahrscheinlicher.
„Wir leben hier schon seit 20 Jahren. Es ist nicht leicht, aber was wollen wir nach all den Jahren im Shan Staat machen? Das Land wurde den Familien genommen, sie haben kein Zuhause, keine Felder, zu denen sie zurückkehren könnten“, erzählt mir  Sai*, der im Alter von 17 Jahren allein über die Grenze gekommen ist. Die Aussicht, erneut von vorne anfangen zu müssen und sich ein neues Leben aufzubauen, ist für viele zu ernüchternd. „Ich habe meinen Vater nie kennengelernt, meine Mutter starb, als ich noch klein war. Bevor ich über die Grenze kam, mussten wir fünfmal vor dem burmesischen Militär fliehen.“ 
Die Situation im Shan Staat ist vom Zwang geprägt. Zwangsumsiedlungen, Zwangsarbeit Zwangsrekrutierung durch die im jeweiligen Gebiet dominierende Armee. In seinem Heimatdorf sei es zu gefährlich geworden, die Kämpfe zwischen dem burmesischen Militär und der Shan State Army hätten sich damals intensiviert.

„Dann kamen burmesische Soldaten zu uns nach Hause und zwangen uns, in ein anderes Dorf umzusiedeln. Sie drohten uns, das Gebiet komplett niederzubrennen, wenn wir nicht in sieben Tagen in einem von ihnen kontrolliertes Dorf  umsiedeln würden. Sie wollten uns im Auge behalten. Das ist die gängige Praxis. Sie wollen so verhindern, dass wir die Shan State Army unterstützen.“ Jeder, der in irgendeiner Weise mit der SSA-S (Shan State Army South) kollaboriert, macht sich in den Augen des burmesischen Militärs verdächtig und riskiert sein Leben. Das kann bereits mit einem harmlosen Verkauf einer Chipstüte an einen Widerstandskämpfer beginnen.

 

Fünfmal musste Sai  umsiedeln. „Nachdem das Militär meine Mutter getötet hatte, habe ich beschlossen, Novize zu werden, denn ich wusste nicht, wohin und es war für mich die einzige Möglichkeit, Bildung zu erhalten und die Shansprache zu lernen. Das ist vom burmesischen Militär verboten und steht unter Strafe, aber in Klöstern konnte man das damals dennoch.“ Er sparte 500 Baht (ca. 13 Euro) in der Hoffnung, die Grenze nach Thailand zu überqueren. Das Geld war mit dem Überschreiten dieser aufgebraucht. „Ich kannte niemanden, hatte nur den Kontakt zum Mönch des Klosters, auf dessen Gelände das Camp steht.“

Heute ist er Englischlehrer hier, konnte erfolgreich die Highschool an einer thailändischen Staatsschule absolvieren und anschließend ein zweijähriges von Spendengeldern finanziertes Teacher Training beenden. Sein Aufenthaltsstatus ist gesichert, zumindest für die nächsten zehn Jahre. Dann muss er sich erneut bewerben und das ist teuer und die Vergabe limitiert. „Immerhin habe ich mit meiner Bildung die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Viele hier im Camp haben das nicht.“
Die meisten arbeiten als Tagelöhner auf den umliegenden Feldern. Was vor wenigen Jahren noch verboten war, ist nun geduldet und die Bewohner können wenigstens tagsüber das Camp verlassen. Die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften wird von der Saison bestimmt. Das ist ein Problem, da die Saison nur 100 bis 120 Tage im Jahr umfasst und die Dorfbewohner*innen an den restlichen 240 Tagen nicht wissen, wie sie ihr Leben finanziell bestreiten sollen.
„Wir haben kein Land, auf dem wir selbst im größeren Maße anbauen könnten. Wir schaffen es zwar, ein wenig Geld zu verdienen, doch das reicht nicht und wir sind abhängig von solchen Notfallspenden.“ Der Dorfvorsteher deutet auf unseren leeren Transporter. Im Gegensatz zu vielen anderen aus Myanmar geflüchteten Ethnien, verweigert die thailändische Regierung den Shan den offiziellen Geflüchtetenstatus. Das wiederum würde jedoch den Prozess erleichtern, das Camp durch die UN als ein offiziell anerkanntes Geflüchteten-Camp auszuweisen. „Wir wollen gar nicht offiziell als solches anerkannt werden! Wir hatten es bei der Gründung 2002 überlegt, da dadurch der Zugang zu NGOs vereinfacht wäre, aber dann müssten wir einen Zaun um unser Dorf ziehen und die staatlichen Kontrollen würden verstärkt werden. Wir könnten nicht mehr auf den Feldern arbeiten und wären vollkommen von den NGOs abhängig. Das ist keine Zukunft für uns! Wir sind vor Unterdrückung geflohen und wären so erneut vollkommen fremdbestimmt. Die Menschen hier würden anfangen zu trinken.“
Allerdings haben sie auch wenig Alternativen zu ihrem Konzept der Campführung, da Thailand zwischen Geflüchteten Shan und Asylsuchenden anderer ethnischer Gruppen aus Myanmar, wie den Karen oder den Karenni, unterscheidet und den Shan nicht das Recht auf Asyl eingesteht.

Die Shan bilden in Thailand die größte migrantische Gruppe aus Myanmar. Die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zwangen die im Shan Staat lebende Bevölkerung zu einer massiven Einwanderung in das Nachbarland. Allein in der Provinz Chiang Mai bilden sie ein Sechstel der Gesamtbevölkerung.[1] Doch ist die Einwanderung der Shan kein neues Phänomen. Die nördliche Grenzregion wird schon seit Jahrhunderten von einem regen Handelsaustausch zwischen den Ländern beeinflusst. Nicht nur Ware wurde von der einen auf die andere Seite gebracht, auch aus Myanmar stammende, meist junge und männliche Arbeitsmigrant*innen kamen nach Thailand, um Geld ihren Familien in der Heimat zu schicken. Basierend auf dieser Grenzvergangenheit beider Länder, sehen sich viele Geflüchtete von heute hartnäckigen Vorurteilen ausgesetzt.

Die Verleumdungsversuche der thailändischen Regierung, dass alle Shan in Thailand Arbeitsmigrant*innen (hauptsächlich vor 1996) seien und deswegen keinen Anspruch auf humanitäre Hilfe hätten, wird besonders von SWAN stark kritisiert[2]„These are not migrant workers, but asylum seekers who are fleeing persecution and systematic violations of human rights under Burmese military regime“[3] heißt es in einer von SWAN herausgegebenen Broschüre. Somit könnte Thailand die Hilfe, die Geflüchteten aus Krisengebieten zusteht, mit der Argumentation ignorieren, dass Gastarbeiter*innen keine humanitäre Unterstützung bräuchten. Auch weitere hartnäckige Fehlannahmen halten sich in der thailändischen Bevölkerung und erschweren vielen Shan den Zugang zur Gesellschaft. Die Shans sind auch bekannt unter der Bezeichnung Tai oder Dai Jai [ไทยใหญ่ die großen Thais]. Diese Bezeichnung verdeutlicht die geteilte historische Vergangenheit beider Kulturen. Darüber hinaus sprechen die Shan eine Sprache, die dem Thai sehr ähnelt, so dass die sprachliche Eingewöhnung eine geringe Hürde darstellt. Diese Aspekte könnten die Integration vereinfachen, wenn diese niedrigschwelligen kulturellen Zugänge von der thailändischen Regierung nicht gegen sie verwendet werden würden. Warum sollte den Shan Unterstützung zustehen, wenn sie sich doch so einfach an die thailändische Gesellschaft assimilieren könnten? Hinzu kommt die omnipräsente Angst, dass man mit dem offiziellen Asyl der Shan Bevölkerung eine Masseneinwanderung auslösen könnte. Auch haftet den Shan nach wie vor das Stigma an, dass sie Drogen, Kriminalität und Krankheiten nach Thailand bringen würden. Diese Denkweise hat ihre Wurzeln in der jüngeren Geschichte beider Länder, die zugegeben von Drogengeschäften im goldenen Dreieck[4] zwischen Thailand, Myanmar und Laos geprägt ist, jedoch nicht im Umkehrschluss heißt, dass Menschen aus dem Shan Staat alle Drogenhändler und Kriminelle sind.  

 

 

Amporn Jirattikorn, Professorin an der Chiang Mai University mit dem Fokus auf ethnische Beziehungen, transnationale Migration und Grenzregionen, kritisiert die undifferenzierte Sichtweise der thailändischen Regierung auf Geflüchtete aus demselben Herkunftsland, welche häufig als homogene Gruppe mit denselben Problemen und Herausforderungen verstanden werden. Nur wenn es darum geht ein Asylgesuch abzulehnen, würde man sich auf die oben beschriebenen Unterschiede beziehen. Die ungleiche Handhabung des Asylrechtest zeigt wie wichtig eine genauere Betrachtung nicht nur einzelner Gruppen, sondern auch einzelner Menschen ist.
Auch wenn hier von „den Shan“ die Rede ist, muss immer mitgedacht werden, dass die Shan keine einheitliche Identität haben. Das Verständnis vom Shan-Sein variiert abhängig von Lebensumständen, Bildung, Geschlecht, Klasse, Wohnort, Erziehung etc. Und auch wenn sich viele Fluchterfahrungen ähneln, gleicht doch keine der anderen.


Diese Feststellung mündet in der Frage, wie generell mit individuellen Hintergründen, Bedürfnissen und Interessen in der Gesellschaft umgegangen werden soll. Ein großer Teil der ethnischen Bevölkerung flieht aus Myanmar, weil sie seit Jahrzehnten vom burmesischen Militär diskriminiert und verfolgt wird. Über den politischen Flügel der SSA-S, das RCSS (Restoration Council of Shan State) hinweg, fordern auch andere ethnische Gruppen eine angemessene politische Repräsentation, deren Umsetzung jedoch auf unterschiedlichen Vorstellungen basiert. Nicht selten fallen dabei die Begriffe „Föderation“ und „Demokratie“. Das macht die Frage nach einem föderalen System, für das zumindest ein politischer Flügel der Shan zu kämpfen scheint, umso komplexer.

Ist diese Frage aber nicht auch global gesehen eine der aktuellsten unserer Zeit? Wie sollen Diversität und unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft abgebildet werden? Wie sollen diese im politischen Kontext repräsentiert sein? Diese Fragestellung betrifft nicht nur die Politik Myanmars, auch in Deutschland hat sie in den letzten Jahren an Aktualität gewonnen und beschäftigt einen Großteil des Parlamentes nicht erst seit den letzten Wahlen.

Eine menschlich-universale Faustregel scheint auch im Shan Staat nach wie vor zu gelten: Wo Verlust, Schmerz und Ungerechtigkeit sind, ist Radikalisierung nicht fern. Ist sie doch durchzogen von familiären Tragödien, Gewalt, rassistischer und sexueller Diskriminierung und Aussichtslosigkeit. Sowohl die Situation entlang der Grenze wird mit zunehmender Radikalisierung unüberschaubar, auch die Verhältnisse in Myanmars Zentralregion spitzt sich seit dem Putsch und mit den Neugründungen neuer Milizen immer weiter zu. "Wir brauchen echte Föderation und eine echte Demokratie!" Diesen Satz hörte ich bei meinem Besuch besonders oft, doch scheint keiner eine Antwort darauf zu haben, wie dieses Ziel erreicht werden soll. So bleibt die politische Zukunft Myanmars ungewiss, die humanitäre Lage im Camp prekär und das Leben der über 200 Bewohner*innen steckt weiterhin zwischen den Grenzen fest. 


[1] Jirattikorn, Amporn: Forever transnational: The ambivalence of return and cross-border activities of the Shan across the Thailand-Myanmar border. In: Singapore Journal of Tropical Geography 38, 2017, S.75

[2] The Shan Women`s Action Network: Shan Refugees: Dispelling the Myths. Chiang Mai 2003

[3] Ebd. S.4

[4] Hierzu in einem weiteren Text bald mehr

* Name anonymisiert 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0