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Varanasi - Stadt Shivas

Eine Stadt, die mindestens genauso viele Gesichter hat wie Namen; manche nennen sie Benares, andere Varanasi oder Kashi, doch für die gläubigen Hindus ist dieser bunte und quirlige Ort hauptsächlich die Stadt Shivas. Eine der zahlreichen Legenden besagt, dass einst Shiva mit seiner Frau Parvati während einer langen Reise auf Grund der Hitze gezwungen war Rast einzulegen. Parvati verspürte Durst und bat ihren Mann um Wasser. Diese Bitte konnte Shiva seiner Frau nicht verwehren und so ließ er aus seinem Haar den Fluss Ganges entspringen, an dem sich Parvati unter den sengenden Strahlen der Sonne erquickte. Das junge Paar ließ sich an derselben Stelle häuslich nieder und an dem Ufer des Flusses entstand die Stadt Varanasi. 

 

Überall finde ich Bildnisse und Stauen, die an diese Geschichte erinnern sollen. Den Fluss erreiche ich, in dem ich mich durch ein eng verzweigtes Netz aus Gassen an gut genährten Kühen und kleinen Geschäften vorbeischlängel, immer mit Rücksicht auf die laut hupenden Motorradfahrer. Als ich endlich den komplizierten Weg zu den Ghats[1] gefunden habe, muss ich nur noch die steilen Stufen zum Wasser herabsteigen, um das bunte Treiben von Wäscherinnen, Kindern und Sadhus zu beobachten. Im Juli strömen tausende in Orange gekleidete Pilger an die Ghats des Ganges, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen und etwas Wasser in kleinen Plastikbehälter mit zurück in ihre Heimatstädte zu nehmen. Das Wasser soll heilige Kräfte besitzen, die einen von Krankheit und Schmerz erlösen soll. Einem europäisch geprägten Menschen erscheint diese trübe Suppe weniger heilend als giftig. 

Der Ganges ist der Fluss des Lebens und des Todes, denn nicht weit entfernt von den lebhaften Ghats, an denen sich die Menschen waschen, liegen die Ghats der Einäscherung, an denen täglich über 300 Leichen verbannt werden. Anschließend wird die Asche dem heiligen Fluss übergeben. Die Hindus glauben durch dieses Ritual den Kreislauf des Lebens zu durchbrechen. Jedoch ist es verboten schwangere Frauen, Babys und Kinder zu verbrennen, sodass ihre Leichen an große Steine gebunden und im Wasser versenkt werden. Es ist nicht selten, dass sich der ein oder andere tote Körper von dem Stein löst und wieder angespült wird. Für Reisende aus weit entfernten Ländern mag dieser Anblick sehr gewöhnungsbedürftig erscheinen, wenn nicht sogar etwas gruselig; Für die in Varanasi lebenden Menschen sind die angespülten Leichen ganz normal und ein Teil ihres Alltags. 

 

Ich verspüre den Drang auch ein Teil dieses Ortes zu werden und meine Neugier auf ein "heiliges Bad" im Ganges siegt schließlich über die Skepsis dem stinkenden und wenig einladend wirkenden Wasser gegenüber. Eine indische Familie bemerkt meinen interessierten Blick und winkt mir zu. Ich soll zu ihnen ins Wasser steigen. Ich zögere, überlege, denke an die Warnung, dass der Ganges verseucht sein soll. Doch so schlimm kann es nicht sein, sonst würden die Inder nicht so vergnügt Planschen, oder? Mit dieser naiven Logik gebe ich mich zufrieden, steige hinab und werde jubelnd von den Orangegekleideten Pilgern empfangen. 

 

 


 

[1] Ghat: Eine zum Gewässer herunterführende Treppe bzw. eine Art flacher Zugang.